Um neun begann der Stadtrundgang. Endlich sah ich alle 28 weiteren Teilnehmer. Es würde nicht leicht sein, eine so grosse Bande zusammenzuhalten. Aber Katarina würde die Aufgabe bestens bestehen, zeigte sich im Laufe der Reise.
Tallinn ist eine Hansestadt. Wörtlich, die dänische Stadt. Erst unter den deutschen Rittern erhielt sie den Namen Reval und ein Wappen, das uns bekannt vorkommt: Weisses Kreuz auf rotem Grund. Das Kreuz allerdings bis zum Rand. Erst Anfang 20 Jahrhundert, bei der ersten Staatsgründung, erhielt die Stadt wieder den alten Namen und ein Wappen mit drei (dänischen) Löwen. Tallinn besteht aus einer - adligen - Oberstadt und einer Unterstadt der Handelsleute und Handwerker. Auch zwischen diesen Stadtteilen gibt es Stadttore. Ein Beispiel für einen Konflikt zwischen den Stadtteilen erzählte Katarina in der Domkirche. Ein deutscher Landadliger entdeckte in der Unterstadt einen ehemaligen Leibeigenen, der geflohen war und nach einem Jahr Aufenthalt in der Stadt freier Bürger geworden war. Es gab einen Streit und der Adlige erstach seinen "Ex-Sklaven". Er wurde verhaftet und vom Gericht der Unterstadt zum Tode verurteilt. Das verärgerte die Adligen und sie verlangten die Aufhebung des Urteils. Die Unterstadt musste die Stadttore schliessen um eine gewaltsame Befreiung des Verurteilten zu verhindern. Da aber innerhalb der Stadtmauern keine Hinrichtungen vorgenommen werden durften, waren die Unterstädter im Dilemma. Die Lösung war, dass man den Verurteilten zwischen dem inneren und dem äusseren Tor eines Stadttores hinrichtete und so alle Gesetze einhielt und vor allem dem Adel zeigte, dass die Gesetze der Stadt für alle galten.
In der Domkirche ist übrigens auch Admiral Krusenstern bestattet.
Am Nachmittag fuhren wir in den Nationalpark Lahemaa. Der Nationalpark wurde schon zur Sowjetzeit gegründet und die Schweiz ist indirekt mitbeteiligt. Die estnischen Intitianten erinnerten sich, dass sich Lenin in einem Buch positiv über den schweizer Nationalpark geäussert hat. Ein starkes Argument und das Geld aus Moskau floss. Wir kamen aber weniger wegen der Natur, als wegen der Herrenhäuser des - vertriebenen - baltisch-deutschen Landadels. Wir besichtigten das Herrenhaus in Palmse. So schön diese Herrenhäuser auch wieder eingerichtet sind, sind sie doch nicht mehr original. Die ehemaligen Besitzer verkauften, was sie nicht mitnehmen konnten. Die Restauratoren bemühten sich Originalmobiliar aufzutreiben, das meiste hingegen kommt nur aus der gleichen Zeit oder wurde anhand von Dokumenten rekonstruiert.
Also: Echt oder nicht echt?
Natürlich lebten nicht nur Gutsherren in Estland. Darum zeigte uns Katarina noch ein Fischerdorf, in dem tatsächlich noch Fischerei betrieben wird. Die Küste mit Schilf und rotem Granit erinnerte mich stark an Dänemark.
Ein sinnvoller Vergleich, den tatsächlich betrachten sich die Esten eher als Skandinavier, also zu Dänemark, Schweden und vor allem Finnland gehörig, als zu den anderen Balten oder gar Russen. Estnisch und Finnisch sind enge Verwandte der finno-ugrischen Sprachgruppe und die Sprecher verstehen sich gegenseitig. Der Dritte im Bunde, das Livische ist hingegen so gut wie ausgestorben.
Die Russen waren natürlich auch Thema bei Katarinas Ausführungen. Sie und andere nicht-Esten wurden bei der Unabhängigkeit zu "Nicht-Bürgern". Sie erhielten zwar lebenslange Aufenthaltsberechtigung, aber kein Wahlrecht. Zur Einbürgerung braucht es einen Sprachtest. Nach Russland "zurück"gewandert ist jedoch kaum jemand. Die jungen Russen möchten lieber Esten und somit EU-Bürger werden.
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