Mittwoch, 15. Dezember 2010

Noch einmal Armut

Ich habe bereits gesagt, dass ich finanzielle Grenzen als Definition von Armut wenig brauchbar finde. Heute fand ich in der NZZ einen Artikel, wo die Entbehrungen genannt werden, durch die sich jemand als arm bezeichnen muss:

Von materieller Entbehrung wird dann gesprochen, wenn mindestens 3 von 9 fixen Elementen fehlen. Die 9 Kriterien sind:
  1. - unerwartete Ausgaben in der Höhe von 2000 Franken tätigen zu können;
  2. - in der Lage sein, eine Woche Ferien pro Jahr weg von zu Hause zu finanzieren;
  3. - keine Zahlungsrückstände (Hypothekenraten oder Miete, laufende Rechnungen, Ratenzahlungen für Mietkauf oder andere Darlehensrückzahlungen);
  4. - in der Lage sein, jeden zweiten Tag eine fleisch- oder fischhaltige Mahlzeit (oder vegetarische Entsprechung) zu haben;
  5. - in der Lage sein, die Wohnung ausreichend zu heizen;
  6. - im Besitz einer Waschmaschine sein;
  7. - im Besitz eines Farbfernsehers sein;
  8. - im Besitz eines Telefons sein;
  9. - im Besitz eines Autos sein.
    Im Prinzip finde ich diese Liste überzeugend, aber teilweise sehr unglücklich formuliert. Ich kann diese Punkte auch nur aus meiner Sicht kommentieren. Also:
    1. Da kommt einem vielleicht eine Zahnarztrechnung in den Sinn, ein Gerät, das exakt nach Ablauf der Garantie ausfällt, eine Einladung zu der man eine neue Garderobe braucht. Ausgaben, die man auch sonst nicht sucht, das Leben aber einfacher ist, wenn man hier keine Probleme hat. Ein wichtiger Punkt.
    2. Es kommt natürlich auf die Wohnsituation an, ob man sich nur weg von zu Hause erholen kann. Klar, ich bin hier privilegiert. Ich würde aber trotzdem neutral von Erholung sprechen.
    3. Eindeutig.
    4. Ein Experte für Ernährung war hier wohl nicht am Werk, oder wie stellt er sich die vegetarische Entsprechung zu Fleisch oder Fisch vor? Gleich wie an den anderen Tagen vermutlich. Abwechselnd Spaghetti und Hamburger würde diese Vorgabe erfüllen. Von gesunder Ernährung kein Wort. Dies müsste man in diesem Punkt fordern.
    5. Eindeutig.
    6.-9. Den Besitz einer bestimmten Sache zu nennen, halte ich für falsch. Es gibt immer Alternativen. Man kann exakt diese vier Gegenstände nicht besitzen und muss deswegen nicht arm sein.
    6. Waschmaschine haben ja die Mieter und auch Wohnungseigentümer im Haus zu gemeinsamen Benutzung. Besser wäre zu sagen: Man muss es sich leisten können, seinen hygienischen Bedürfnissen nachzukommen. Dazu würde nicht nur waschen, sondern auch Körperpflege gehören.
    7. Zugang zu Tagesaktualität und allgemeinen Informationen, tönt zwar abstrakter, aber besser. Wer Radio hört und Bücher liest - Sachbücher und Romane - ist dem reinen TV-Konsumenten eher überlegen, finde ich.
    8. Mit Einschränkung, ja. Das Telefon ist natürlich immer noch das Mittel der Erreichbarkeit. Bei der Jobsuche, zum Abmachen mit Freunden, zum Einholen von Auskünften. Stellvertretend für alle elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten.
    9. Das ist von der Situation abhängig. Wer, wie ich, abgelegen mit schlechter öV-Anbindung lebt, für den wird die Aufgabe des Autos zum Problem. Ansonsten sollte man eher von den notwendigen Transportmitteln reden. Wer, wie auch immer, seinen Weg zur Arbeit, zum Einkauf, zu seinen Freunden, zu seinen Freizeitbeschäftigungen zurücklegen kann, erfüllt diesen Punkt.

    Nun, ich bin in der komfortablen Lage, die 9 Punkte auch in der Originalformulierung zu erfüllen. Aber bei der Untersuchung dieser Liste bin ich einmal mehr zur Ueberzeugung gekommen, dass es kein hieb- und stichfestes System zur Bestimmung von Armut gibt. Wer sich also mit Menschen in materieller Not befasst, muss die individuelle Situation beurteilen. Noch besser wäre, wir hätten ein System, das diese materielle Not von vorne herein ausschliesst. Das vielbesprochene bedingungslose Grundeinkommen könnte ein solches System sein. Aber auf dieses dünne Eis will ich mich hier und jetzt noch nicht hinauswagen.

    2 Kommentare:

    1. 5. Nun habe ich also diese Zwanzigzimmer Villa am Thunersee gekauft und kann auch die Hypotekarzinsen bezahlen, aber die Heizkosten brechen mir das Genick. Bin ich jetzt arm?

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    2. Erst wenn du die Waschmaschine (6) und den Farbfernseher (7) verkauft hast. Dann verbleibt definitiv nichts mehr, was Wärme abgibt.

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